Über den Altbau I
Seit sechs Jahren lese ich als förderndes Mitglied den Krautreporter, ein Projekt einer Gruppe Journalisten, die zu neuen Ufern aufgebrochen sind. Was als Experiment begann, hat sich zu einem wichtigen Faktor in der deutschen Medienlandschaft entwickelt. Es gibt guten Journalismus ohne Werbung und heimliche Agendas – denn das Medium gehört den Lesern!
Anfang März erschien eine neue Folge der Serie „Architektur Verstehen“ von Matthias Warkus mit dem Titel Altbau oder nichts: Warum viele meinen, dass an Dielenboden und Stuck kein Weg vorbeiführt. Das fand ich einen wunderbaren Text, schließlich habe auch ich fast zwanzig Jahre meines Lebens in sehr schönen Altbauten gelebt. Mit Erlaubnis des Autors und des Journalistenkollektivs darf ich Ihnen nun den Artikel präsentieren. Vielen Dank dafür!
KRAUTREPORTER: ARCHITEKTUR VERSTEHEN, FOLGE 2
Altbau oder nichts: Warum viele meinen, dass an
Dielenboden und Stuck kein Weg vorbeiführt
von Matthias Warkus
Sind es die Verzierungen? Die hohen Decken?
Die Erinnerungen an wilde WG-Tage?
Dieser Text ist keine Liebeserklärung an den Altbau –
sondern eine Erklärung dieser Liebe.
Ein riesiges Eckzimmer mit Kronleuchter, Zierleisten rundum, gewaltige Türen, gefühlt doppelt so hohe Decken wie in meiner eigenen Butze, und das alles für eine lächerliche Kaltmiete. So war das Mitte der Nullerjahre, als ich zum ersten Mal auf eine WG-Party in Leipzig eingeladen war. Ich hatte vorher gar keine Vorstellung davon, was das eigentlich sein soll: eine Altbauwohnung.
Seitdem sind 15 Jahre vergangen, ich kenne Leute, die erfolgreich Bücher schreiben oder leitende Funktionen in der Medienbranche haben, und wenn die auf Facebook nach einer neuen Behausung suchen (typischerweise, weil sie von Hamburg nach Berlin ziehen oder umgekehrt), dann muss es eigentlich immer eine Altbauwohnung sein.
Der Eindruck drängt sich auf, dass so eine Wohnung das Ideal des Wohnens überhaupt ist, weswegen sich alle, die die Möglichkeit haben, auch eine unter den Nagel reißen. Die hyggeligen Arbeitszimmer- und Küchentischfotos von Akademiker- und Journalistenbekanntschaften lassen im Hintergrund gern schnörkelige Türfüllungen und himmelhohe Fenster erkennen. Sucht man im Netz nach entsprechenden Begriffen, findet man Blogartikel mit langen Liebeserklärungen an den Altbau oder auch die verzweifelte Frage eines frustrierten Users in einem Forum von Elitepartner, warum Altbauwohnungen eigentlich „der Traum aller Frauen“ seien. Ich hatte auch schon mindestens einmal die Diskussion, warum man eigentlich heute nicht mehr so baut.
Warum gibt man den Leuten denn nicht, was sie wollen? Alle wollen Altbau! Man könnte dem konservativen Schriftsteller Martin Mosebach beipflichten, der 2010 gesagt hat: „In unserer Gegenwart will ja eigentlich niemand eine andere als eine Gründerzeitwohnung haben.“
Das ist die zweite Folge meiner Architekturserie. In der ersten Folge hatte ich euch gefragt, worüber ich als Nächstes schreiben soll. Gewonnen hat – selbstverständlich – der Altbau. Gut, ihr wolltet es ja so. In diesem Artikel erfahrt ihr, warum man sich Altbaufassaden aus dem Katalog aussuchen konnte, warum man heute nur noch niedrige Decken baut und, ja, warum alle in den Altbau wollen.
Wenn wir Altbau sagen, meinen wir Gründerzeit
Ein Siedlungshäuschen von 1952 ist inzwischen auch schon ein alter Bau, aber wenn wir heute „Altbau“ sagen, meinen wir normalerweise nicht das, sondern wir meinen „Gründerzeit“. Und was ist nun dieses Objekt der Begierde, die Gründerzeitwohnung? Die eigentliche Gründerzeit dauerte von Januar 1871 bis Mai 1873. Sie war ein Wirtschaftsboom nach der Ausrufung des Kaiserreichs, in dem in Preußen jährlich vierzehnmal mehr Aktiengesellschaften gegründet wurden als direkt zuvor – daher der Name. Heute steht „Gründerzeit“ umgangssprachlich für den Bau- und Einrichtungsstil privater Gebäude zwischen 1870 und 1900.
In dieser Zeit wurde enorm viel und schnell gebaut. Die Städte übersprangen ihre Festungsgürtel, die angesichts von Krupp-Kanonen und Dynamit sinnlos geworden waren. Die vor den Toren entstandenen Bahnhöfe lagen plötzlich mitten in der Stadt. Inbegriff von „Gründerzeit“ ist der große Berliner Mietskasernengürtel zwischen der Linie der ehemaligen Zollmauer (das war die Stadtmauer im 19. Jahrhundert) und dem S-Bahn-Ring. Dazu gehört unter anderem der heutige Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Auf diese charakteristische Art wurde aber europaweit gebaut, und es entstanden nicht nur eng aneinandergepresste Mietshäuser, sondern auch Viertel mit freistehenden Häusern und die vielen Villen in Hanglage, die das Stadtbild von Heidelberg oder Jena prägen.
Man baute schnell und aus billigem Backstein, daher wurden die Wände verputzt und immer auch verziert. Dazu dübelte man vorgefertigte Stuckelemente aus dem Katalog an, deren Form sich an historischen Vorbildern orientierte. Sie bestanden meist aus einfachem Gips.
Während in der Renaissance Lehrbücher beschrieben, wo in einer Fassade man welche antiken Stilelemente platzieren sollte, gingen die Baumeister der Gründerzeit nach Mode und Kassenlage vor. Ihre Planung war derartig Pi mal Daumen, dass den Bauanträgen nur selten Zeichnungen beilagen, die der späteren Gestaltung entsprachen. Eine endlos weitergegebene Anekdote aus Berlin berichtet, dass einmal ein Polier gefragt haben soll: „So, der Rohbau ist fertig, welcher Stil soll denn nu ran?“ Im folgenden Video könnt ihr verschiedene Gesimse, Pilaster, Säulen und Fensterumrandungen, Rosetten, Kartuschen und wie die Bauteile alle heißen, an Gründerzeithäusern in Leipzig-Plagwitz sehen:
Was für uns neben den verzierten Fassaden „Altbau“ schlechthin ausmacht, ist die Raumhöhe. Auf einer normalen Stehleiter kommt man in einer Gründerzeitwohnung oft nicht einmal mit dem Pinsel an die Decke. Während Neubauten meist wenig über das übliche gesetzliche Minimum von 2,40 Meter hinausgehen, sind in Altbauten 3,50 Meter keine Seltenheit. Und auch die Innenräume sind mit Stuck aus dem Katalog dekoriert. Im folgenden Video seht ihr ein Zimmer in einer Leipziger Altbauwohnung mit der typischen Rosette in der Deckenmitte, wo früher das Rohr für die Gaslampe austrat, und Zierleisten ringsum:
Die hohen Decken beeindruckten Versicherungsgutachter
Hohe Decken und Stuck – warum war der Massenwohnungsbau des 19. Jahrhunderts so großzügig? Die Antwort ist: Es gab ganz pragmatische Gründe dafür. Stuck und hohe Decken imitierten die hochherrschaftlichen Schlösser und Paläste des Adels aus dem 18. Jahrhundert. Vor allem aber ging es um die Einstufung der Gebäude in der gesetzlichen Feuerversicherung. „Hochherrschaftliche Bauten“ waren die Spitzenklasse. Je näher man ihnen kam – und das wurde eben über hohe Decken und verzierte Fassaden umgesetzt –, desto höher der geschätzte Versicherungswert (die sogenannte Brandklasse) und desto höher auch der mögliche Hypothekenkredit. Der Bauherr profitierte also doppelt: Möglichst große Ähnlichkeit zu Adelspalais beeindruckte zahlungskräftige Mieter; außerdem beeindruckte sie den Versicherungsgutachter. Das brachte einen höheren Beleihungswert und erleichterte so die Kreditbeschaffung.
Nebenbei hatten hohe Decken noch andere Vorteile: Die tiefen Zimmer, die Fenster nur an einer Seite hatten, wurden so besser ausgeleuchtet. Der große Luftbedarf durch Gasbeleuchtung und Ofenheizung mag auch eine Rolle gespielt haben. „Hohe Decken“ ist dabei übrigens relativ. Meist gibt es die gewaltigsten Deckenhöhen im ersten Stock, der sogenannten Beletage. Nach oben und unten wird es niedriger. Da es keine Aufzüge gab, waren die Wohnungen in den oberen Stockwerken nicht mehr an die bessere Gesellschaft zu vermieten. Gerade für Berlin war es daher besonders typisch, dass vorne in den Häusern wohlhabende Familien lebten, darüber und darunter sowie in den lichtarmen Wohnungen im Hinterhaus Kleinbürger und einfache Arbeiter.
Warum baut man nun heute nicht mehr so? Das hat ein ganzes Bündel von Gründen.
Der Geschmack veränderte sich schnell. Die Fassaden wurden schlichter, oft mit Kontrasten aus Klinker, Stein und Putz, Ornamente wurden abstrakter, Balkone kommen auf. Schaut euch an, wie es im Jenaer Damenviertel aus der Zeit um die Jahrhundertwende aussieht:
Nach dem Weltkrieg und der Hyperinflation 1923 sind dann die Vermögen vernichtet. In der Gründerzeit hatten ausschließlich private Bauherren gebaut. Ab den Zwanzigerjahren wird der Staat Bauherr, und der hatte mit seinem sozialen Wohnungsbau weder finanziell noch ideologisch etwas dafür übrig, den Adel zu imitieren. Der Zugang zur frischen Luft wird außerdem wichtig. Früher waren Verzierungen das dominierende Element einer Mietshausfassade – jetzt sind es die Balkone, und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Ausstattung und Technik werden in Wohnungen wichtiger als Stuck und Ornamente
Gleichzeitig bekommen Wohnungen immer mehr Technik. 1880 waren Etagen-WC, Ofenheizung, ein einsamer Kaltwasserhahn in der Küche und Gasbeleuchtung noch Stand der Technik. Dreißig Jahre später kann eine Wohnung der bürgerlichen Oberschicht schon mit Bad, WC, Kalt-, Warm-, Abwasser- und Elektroinstallation ausgestattet sein, in Ausnahmen sogar mit Zentralheizung und Telefon.
Bis heute hat sich diese Tendenz gehalten: Investoren, die für Mieter attraktiv bauen wollen, stecken ihr Geld eher in Balkone und Terrassen, hochwertige Böden, Technik wie Fußbodenheizung und Videosprechanlage und teure Bäder mit abgefahrenen Designer-Duscharmaturen aus dem Schwarzwald. Sie stecken es nicht in Stuck oder Ornamente.
Aber: Warum wollen trotzdem weiterhin alle im Altbau wohnen? Ich bin stolzer Plattenbewohner und muss sagen: Altbauten haben objektive Nachteile. Groß, hellhörig und zugig, mit knarzenden Dielenböden und winzigen, nachträglich irgendwie eingebastelten Badezimmern. Ich kenne Leute, die ihre Gründerzeitwohnungen ausschließlich mit Stehlampen beleuchten, weil es so halsbrecherisch ist, an die Decke zu kommen. Aber selbst das ist nicht einfach, weil es meistens nur wenige Steckdosen gibt. Und von Nebenkosten und Umweltaspekten wollen wir gar nicht erst reden.
Der deutsche Traum: „Town & Country Flair 113“
Warum also? Die schockierende Antwort: Es stimmt überhaupt nicht. Es wollen nicht alle im Altbau wohnen. Überhaupt nicht. Verschiedene Studien kommen regelmäßig zu dem Ergebnis, dass die erdrückende Mehrheit der Deutschen vom Einfamilienhaus träumt: Am besten in einer ruhigen, aber gut angebundenen Randlage einer mittleren Großstadt. Das wohl meistgebaute Haus Deutschlands ist das „Town & Country Flair 113“.
Man kann hier wirklich keine Tendenz zu besonders viel Dekoration und Schnörkeln erkennen. Bei Mietwohnungen sind den Deutschen Balkon, Badewanne und Lage wesentlich wichtiger als Stuck; und bei Eigentumswohnungen ist Neubau weit beliebter als Altbau.
Als ich davon schrieb, dass „alle“ in einer Altbauwohnung wohnen möchten, meinte ich nicht die Gesamtbevölkerung, sondern eine Teilgruppe. Die eigentlich interessante Frage ist: Wer sind die Altbau-Anhänger? Und warum sind sie so sichtbar? Dazu habe ich keine harten Daten, aber ein paar Vermutungen.
Zunächst: Von Altbau dominierte Stadtteile sind häufig gut gelegen, belebt und haben eine gute Infrastruktur. Das macht sie bei Leuten beliebt, die im Restaurant gerne nochmal eine Runde bestellen, ohne darauf schauen zu müssen, wann der letzte Nachtbus fährt. Diese Art von Lebensqualität hat aber nichts damit zu tun, ob Häuser stuckverzierte Beletagen haben oder nicht. Das zeigt ein Blick nach Köln: Lindenthal und Ehrenfeld, um nur zwei Beispiele herauszugreifen, sind begehrte und als lebenswert geltende Viertel, aber die Gebäude stammen aus der Nachkriegszeit (Lindenthal wurde im Zweiten Weltkrieg zu 85 Prozent zerstört, in Ehrenfeld sah es auch nicht viel besser aus).
Im Altbau wohnen heißt auch: dagegen sein
Schwerer wiegt vermutlich: Die Gründerzeitwohnung war zwar jahrzehntelang Massenwohnungsbau, aber von 1918 bis ungefähr 1990 fand gänzlich anderer Massenwohnungsbau statt – Nachkriegs-Zeilenbauten, Hochhäuser, Platte Ost und West, geförderte Einfamilienhaus-Baugebiete am Stadtrand. In der Nachkriegszeit war es also noch cool, individuell und nonkonform, in einem Bungalow mit Panoramafenstern wohnen zu wollen. Der belgische Chansonnier Jacques Brel singt in „Ces gens-là“ davon, aus der spießigen Bürgerfamilie in „ein Haus mit haufenweise Fenstern, mit fast keinen Wänden“ flüchten zu wollen. Aber seit den Siebzigerjahren bedeutet dagegen sein, wieder in die vernachlässigten Altbauwohnungen zu ziehen.
Sie waren in den Metropolen bis in die Neunzigerjahre wesentlich unbeliebter als heute, die Mieten niedriger und die großen Wohnungen WG-geeignet. Viele, die heute in akademischen Berufen tätig sind, haben ihre Studienzeit in Altbauten verbracht. Gleichzeitig ist der Renommierwert einer gut sanierten Gründerzeitwohnung nach wie vor hoch, so dass Professoren oder Anwälte, die im Altbau wohnen, altmodische Repräsentation und Reminiszenzen an ihre eigene wilde Zeit miteinander verbinden können.
Dazu passt, dass Wohnungen im akademischen Milieu heutzutage selbst bei Gutverdienern oft irgendwie unfertig und studentisch eingerichtet sind. Die schicke Altbauwohnung bedient möglicherweise das Bedürfnis, sich, obwohl arriviert, dennoch ein bisschen rebellisch, urban und cool zu fühlen – in gewisser Weise ist sie die Harley-Davidson unter den Wohnformen.
Gleichzeitig haben schrabbelige Altbauwohnungen ihren Nimbus als studentisch und individualistisch bis heute nicht verloren, und man findet sie gehäuft an den Orten, wo junge Akademiker sich ohnehin am wohlsten fühlen. Das Geheimnis der Gründerzeitwohnung ist also vermutlich: Sie unterstützt die Personen, die am besten Publicity für sie machen können – großstädtische Akademiker in Medien und Kreativwirtschaft –, über ihre ganze Biographie hinweg in ihrem Bemühen um Coolness und Repräsentation. Wegen der hohen Decken kann man sich instagrammable Bücherwände mit Leitern bauen. Und man kann ganz wunderbar Elektrogerätekartons oben auf den Schränken lagern. Das sollte man auch nicht unterschätzen.
Vielen Dank an Familie Schotte, die mich in ihre Wohnung gelassen hat!
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Martin Gommel.
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